Verordnungsfähigkeit im Lebenszyklus eines Fertigarzneimittels

„Leider wirken die an die Ärzte gestellten Anforderungen in der Praxis deutlich komplexer“

Bei der Verordnung eines Arzneimittels spielen mehrere Faktoren eine Rolle: Wirksamkeit, Sicherheit, Nutzen-Risiko-Verhältnis, Aussagesicherheit der vorhandenen Evidenz, therapeutische Alternativen und nicht zuletzt die Kosten. Diese Faktoren und ihre Bedeutung für die Verordnung eines Arzneimittels können sich im Lebenszyklus eines Arzneimittels von seiner Erforschung bis zu seiner generischen/biosimilaren Verfügbarkeit ändern. Im Folgenden soll ein kurzer Überblick über diese Wandlungen gegeben werden.

1. Vor der Arzneimittelzulassung: Compassionate Use, Heilversuch und „Nikolaus“

Die arzneimittelrechtliche Zulassung ist Voraussetzung für die Abgabe eines Fertigarzneimittels. Spitzfindig lässt sich sagen, dass die Anwendung des Arzneimittels keine Abgabe ist und also keine Zulassung voraussetzt. Dies ist auch zutreffend, doch ermöglicht dies nur die Anwendung eines selbst hergestellten Arzneimittels, nicht jedoch die Anwendung eines Fertigarzneimittels, das erst beschafft werden muss. Vor der Zulassung eines Fertigarzneimittels kann es deswegen nur im Notstand sowie in den gesetzlich geregelten Ausnahmefällen eingesetzt werden.

Neben der Abgabe in klinischen Prüfungen sind als gesetzliche Ausnahme ausdrücklich die Härtefallprogramme geregelt. Ein solches, auch Compassionate Use-Programm genanntes Programm ist genehmigungspflichtig und nur bei Krankheiten zulässig, die zu einer schweren Behinderung führen oder lebensbedrohend sind und mit einem zugelassenen Arzneimittel nicht zufriedenstellend behandelt werden können. Im Rahmen eines solchen Programms muss das Arzneimittel kostenlos abgegeben werden, sodass sich die Frage der Finanzierung durch die gesetzlichen Krankenkassen nicht stellt.

Jenseits eines solchen Härtefallprogramms kann ein individueller Heilversuch erfolgen, wenn es mangels Alternativen und wegen bestehenden Handlungsdrucks vertretbar erscheint, das Arzneimittel trotz fehlender Zulassung einzusetzen. Die Einzelheiten sind juristisch nicht

abschließend geklärt, doch spielt hier insbesondere die Aufklärung des Patienten eine gewichtige Rolle, der in den Heilversuch in Kenntnis sämtlicher Unsicherheiten einwilligen muss.

Eine Finanzierung des Heilversuchs durch die Gesetzliche Krankensicherung scheidet im Regelfall aus, weil die gesetzlichen Krankenkassen Leistungen schulden, die dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen; ein Heilversuch erfüllt diese Voraussetzung schon begrifflich nicht.

Anders ist die Situation nur in den sog. Nikolaus-Fällen (benannt nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 06.12.2005 – 1 BvR 347/98), die heute in § 2 Abs. 1a SGB V geregelt sind. Danach haben Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, auf ihren Antrag oder auf Antrag des behandelnden Arztes einen Leistungsanspruch, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Die Evidenzanforderungen sind in dieser notstandsähnlichen Situation also stark abgesenkt.

Eine weitere – in der Praxis kaum vorkommende – Ausnahme sind die sog. Seltenheitsfälle, in denen ein Leistungsanspruch bestehen kann, wenn die Krankheit so selten ist, dass sie praktisch unerforschbar ist: Wo keine Evidenz möglich ist, ist sie auch nicht nötig (BSG v. 19.10.2004 – B 1 KR 27/02 R).

2. Noch keine Zulassung in Deutschland/EU: Einzelimport

Wird dem Arzneimittel außerhalb Deutschlands oder der EU (in der Regel also: USA) eine Zulassung erteilt, ändert dies an den oben dargestellten Rahmenbedingungen an sich nichts. Nun kann das Arzneimittel zwar nach § 73 Abs. 3 Arzneimittelgesetz im Einzelfall importiert werden („named patient import“), wenn hinsichtlich des Wirkstoffs identische und hinsichtlich der Wirkstärke vergleichbare Arzneimittel für das betreffende Anwendungsgebiet in Deutschland nicht zur Verfügung stehen. Doch besteht für diese importierten Arzneimittel eine Leistungspflicht gesetzlicher Krankenkassen auch nur unter den „Nikolaus“-Voraussetzungen des § 2 Abs. 1a SGB V (BSG v. 04.04.2006 – B 1 KR 7/05 R).

3. Nach der Zulassung: medizinischer Standard und Wirtschaftlichkeitsgebot

Mit der europaweiten Zulassung ist das neue Arzneimittel in Deutschland verkehrsfähig, kann also verordnet und abgegeben werden. Eine Erstattungspflicht gesetzlicher Krankenkassen setzt nun voraus, dass seine Verordnung dem Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsgebot des SGB V genügt. Insoweit bestehen zwischen der ambulanten und der stationären Versorgung keine Unterschiede.

Nach dem in § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V geregelten Qualitätsgebot müssen Qualität und Wirksamkeit der Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen und den medizinischen Fortschritt berücksichtigen. Mit der Zulassung ist hierfür die Mindesthürde genommen. Die weitere Konkretisierung erfolgt im Einzelfall durch den Arzt nach den Regeln der evidenzbasierten Medizin, wie sie sich idealerweise in aktuellen S3-Leitlinien niederschlägt.

Das Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 12 Abs. 1 SGB V) fordert, dass die Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein müssen; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten.

Wichtig ist dabei zum einen die Anforderung der Zweckmäßigkeit. Sie fordert im Regelfall, dass die Wirksamkeit der Arzneitherapie belegt ist. Mit der Zulassung ist diese Voraussetzung erfüllt. Umgekehrt ist die (vermeintlich) fehlende Zweckmäßigkeit der Grund, warum ein Off-Label-Use zulasten gesetzlicher Krankenkassen nur ausnahmsweise zulässig – und stets nachrangig gegenüber einer möglichen zugelassenen Therapie – ist (BSG v. 19.03.2002 – B 1 KR 37/00 R).

Das Wirtschaftlichkeitsgebot im engeren Sinne baut auf diesen medizinischen Verordnungsvoraussetzungen auf. Unter medizinisch im konkreten Einzelfall gleichwertigen Behandlungsoptionen ist die für die Krankenkasse kostengünstigere Option zu wählen. Gibt es aber einen medizinischen Grund zur Auswahl der kostenintensiveren Option, ist diese auch wirtschaftlich (BSG v. 20.10.2004 – B 6 KA 41/03). Das Wirtschaftlichkeitsgebot fordert daher nicht stets die kostengünstigste Therapie, sondern umgekehrt: die medizinische Begründbarkeit der getroffenen Auswahl.

Wichtig ist, dass der für die Auswahl des verordneten Arzneimittels sprechende medizinische Grund nicht gegen etwaige Mehrkosten abgewogen werden muss. Dies würde nämlich eine Kosten-Nutzen-Bewertung erfordern, die nicht zu den Aufgaben des Arztes gehört (BSG v. 31.05.2006 – B 6 KA 13/05 R).

4. Zur Bedeutung des AMNOG: Erstattungsbetrag und Praxisbesonderheiten

Gerade weil das Wirtschaftlichkeitsgebot vom Arzt keine Abwägung von Kosten und Nutzen fordert, hat die Politik entschieden, die Arzneimittelkosten von neuen Arzneimitteln über das AMNOG zu regulieren. Danach müssen alle Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen seit 2011 im Zeitpunkt der Markteinführung in Deutschland ein Nutzendossier beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) einreichen, der dieses – häufig unter Nutzung des IQWiG – binnen sechs Monaten bewertet und feststellt, ob das neue Arzneimittel gegenüber dem bisherigen Therapiestandard („zweckmäßige Vergleichstherapie“) einen Zusatznutzen aufweist, in welchem Ausmaß dieser besteht („gering“, „beträchtlich“, „erheblich“ oder „nicht quantifizierbar“) sowie welche Aussagesicherheit hierfür besteht („Anhaltspunkt“, „Hinweis“, „Beleg“).

Diese Nutzenbewertungen sind bei Verordnungen in der Gesetzlichen Krankenversicherung zu beachten. Beachten heißt dabei aber nur, dass der Arzt sie zur Kenntnis nehmen und berücksichtigen muss; die Verordnungsentscheidung wird ihm nicht vorgegeben. Dies kann auch gar nichts anders sein, weil die Therapieauswahl stets einzelfallbezogen erfolgen muss, während der G-BA nur die aktuelle Studienlage – anhand hoher Evidenzanforderungen – bewertet.

Auf der Grundlage des G-BA-Beschlusses verhandelt der pharmazeutische Unternehmer mit dem GKV-Spitzenverband binnen sechs Monaten den Erstattungsbetrag, der ab einem Jahr nach Markteinführung den maximalen Abgabepreis darstellt. Ziel des Verfahrens ist ein nutzenangemessener Preis auch für Innovationen.

Gibt es neue wissenschaftliche Erkenntnisse, kann eine erneute Nutzenbewertung beginnen. Wird das Arzneimittel für ein weiteres Anwendungsgebiet zugelassen, muss eine erneute Nutzenbewertung vorgenommen werden. Auf deren Grundlage wird dann jeweils erneut über den Preis verhandelt, sodass sich der Erstattungsbetrag letztlich als Mischpreis über eine Vielzahl von Indikationen darstellt.

Aus dem Erstattungsbetrag folgt deshalb nicht automatisch die Wirtschaftlichkeit der Verordnung. Auch hier ist wieder der Unterschied zwischen der den Einzelfall in den Blick nehmenden ärztlichen Bewertung einerseits und andererseits der auf der abstrakten Ebene über alle zugelassenen Anwendungsgebiete hinweg pauschalierenden Vorgehensweise des AMNOG zu beachten.

Allerdings können GKV-Spitzenverband und pharmazeutisches Unternehmen für Anwendungsgebiete mit vom G-BA anerkannten Zusatznutzen vereinbaren, dass die ärztlichen Verordnungen in den das gesamte Verordnungsverhalten in den Blick nehmenden Wirtschaftlichkeitsprüfungen als Praxisbesonderheit zu berücksichtigen sind. Die Kosten einer solchen bundesweiten Praxisbesonderheit werden dann in den regionalen Prüfungen herausgerechnet.

5. Markteintritt von Generika/Biosimilars

Mit dem Markteintritt von Generika oder Biosimilars beginnt dann der von den gesetzlichen Krankenkassen ersehnte Preiswettbewerb. Der Erstattungsbetrag gilt zwar als Kostenobergrenze fort, doch spielt dies wegen des deutlich darunter stattfindenden Preiswettbewerbs in der Praxis keine Rolle.

Für die ärztliche Verordnung gelten weiterhin die oben dargestellten Anforderungen des Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsgebots. Eine automatische Pflicht zur Umstellung auf Generika bzw. Biosimilars besteht nicht; allerdings verpflichtet das Wirtschaftlichkeitsgebot zur Auswahl der kostengünstigeren Option, wenn Original und Generikum/Biosimilar im konkreten Behandlungsfall therapeutisch gleichwertig sind.

Eine automatische Substitution durch den Apotheker findet aktuell nur im Verhältnis Original/Generikum statt, wobei Rabattvertragsarzneimittel stets vorrangig abzugeben sind. Zudem kann der Arzt die Substitution durch Durchkreuzen des aut idem-Feldes auf dem Kassenrezept ausschließen.

Eine Substitution des Originals durch sein Biosimilar in der Apotheke ist bislang noch unzulässig. Bis zum 16.08.2022 soll der G-BA jedoch Hinweise zur Austauschbarkeit von biologischen Referenzarzneimitteln auch durch Apotheken geben.

6. Verordnungssteuerung und Regressprophylaxe

Die hier dargestellten Grundlinien wirken nicht nur einfach, sie sind es an sich auch: Sobald ein Arzneimittel zugelassen ist, kann es vom Arzt zulasten gesetzlicher Krankenkassen verordnet werden, wenn seine Auswahl bei einzelfallbezogener Betrachtung unter Berücksichtigung der wissenschaftlichen Evidenz dem medizinischen Standard entspricht und es keine therapeutisch gleichwertige kostengünstigere Option gibt.

Leider wirken die an die Ärzte gestellten Anforderungen in der Praxis deutlich komplexer. Dies liegt nicht zuletzt an der Vielzahl von Steuerungsversuchen der Krankenkassen und Selbstverwaltungspartner. Beispielhaft zu nennen sind Verordnungsquoten, Informationsschreiben, Richtgrößen und nicht zuletzt Wirtschaftlichkeitsprüfungen. Wichtig zu wissen ist jedoch, dass diese Instrumente nur der Konkretisierung der oben dargestellten Grundlinien dienen, aber nicht von ihnen abweichen dürfen. So zwingt eine Leitsubstanzquote den Arzt nicht zur Auswahl der Leitsubstanz, sondern sie enthält lediglich die Aussage, dass bei durchschnittlicher Patientenverteilung nach Einschätzung der Selbstverwaltungspartner in X Prozent der Fälle die Verordnung der Leitsubstanz dem medizinischen Standard und dem Wirtschaftlichkeitsgebot entspricht. Eine Aussage zu dem vom Arzt behandelten Einzelfall enthält die Quote naturgemäß nicht; nicht zuletzt deshalb liegen die Quoten auch nicht bei 100 %.

Auch Wirtschaftlichkeitsprüfungen müssen so ausgestaltet sein, dass eine dem Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsgebot genügende Verordnung nicht regressiert wird. Deshalb muss Ärzten in solchen Prüfungen auch immer Gelegenheit zur Begründung ihres Verordnungsverhaltens gegeben werden. Bestes Mittel der Regressprophylaxe ist daher stets eine gute Dokumentation in der Patientenakte. „Gut“ meint dabei nicht zeitaufwendig und lang. Vielmehr sollten – ggf. stichpunktartig – kurz und knapp die Gesichtspunkte festgehalten werden, die die Auswahl im konkreten Einzelfall begründen.

Bei Verfügbarkeit kostengünstigerer Alternativen sollte also insbesondere der medizinische Grund festgehalten werden, der die Verordnungsentscheidung prägte.

 

Autor: Dr. Gerhard Nitz, Fachanwalt für Medizinrecht, GND Geiger Nitz Daunderer Rechtsanwälte PartG mbB, Berlin, www.gnd-law.de