Länger besser leben!
Die moderne Onkologie ist toll. Das meine ich ganz ernst. Wir sind noch lange nicht an unserem Ziel, alle Tumorkrankheiten heilen zu können (auch wenn Herr Spahn das anders sieht). Wir können unseren Patienten jedoch immer häufiger mitteilen, dass es viele Optionen gibt, ihre Erkrankung zu behandeln und eine längere (Über-)Lebenszeit möglich ist.
Neben der erfreulichen Entwicklung erleben wir jedoch auch „neue“ Fragestellungen, die uns in der Behandlung begegnen. Das längere Leben bringt eine längere Belastungszeit für Körper und Geist. Die psychischen Auswirkungen einer bedrohlichen Erkrankung nehmen zu und es gilt Lösungen zu finden, damit unsere Patienten im Leben bleiben, und nicht „nur“ am Leben.
So sehe ich heute einen Patienten, bei dem wir vor 6 Monaten die Kollegen der Palliativmedizin gebeten haben, ihn zusammen mit uns zu betreuen. Zu diesem Zeitpunkt litt er unter einem neu diagnostizierten Pankreaskarzinom. Er ist 58 Jahre und die Metastasierung war zum Zeitpunkt der Erstdiagnose bereits in der Leber, Lunge und den abdominellen Lymphknoten weit fortgeschritten. Laut Tumorboardbeschluss sollte ihm best supportive care vs. palliative Chemotherapie angeboten werden. Herr W. war krank und spürte die Bedrohung durch diese Erkrankung. Er wünschte ausdrücklich den Versuch einer Therapie zur Verlängerung seiner Lebenszeit. So ungewöhnlich es auch ist; die Behandlung hat sehr gut angesprochen und es besteht aktuell eine minimale Resterkrankung. Die Kollegen der Palliativmedizin haben sich wieder zurückgezogen und Herrn W. mitgeteilt, dass er sich melden kann, wenn es ihm wieder schlechter geht.
In unserem Gespräch beschreibt er die letzten Monate und wie hilfreich der Besuch der Kollegen war. Er lebt allein; der einmal wöchentliche Besuch hat ihm Sicherheit gegeben. Die Möglichkeit, jederzeit einen Arzt oder eine Pflegekraft telefonisch erreichen zu können, habe ihn stabilisiert. Seine Nahrungsaufnahme ist wieder oral vollständig möglich; dennoch fehlt ihm die Unterstützung des Ernährungsteams und die Motivation zu essen. Seine Mobilität ist deutlich besser geworden, doch ist er zu geschwächt und müde, sich selbst zu versorgen. Jeder Einkauf ist ein Tagwerk und Freunde und Bekannte sind nicht immer verfügbar.
Während der Unterhaltung mit dem Patienten wird mir wieder einmal bewusst, wie beeindruckend medizinische Verläufe sein können. Es wird jedoch auch klar, dass die Kontrolle der Tumorerkrankung noch lange keinen gesunden Menschen hervorbringt. Die Krankheit und die Behandlung verändern den Erkrankten; Sicherheit und Selbstvertrauen leiden, ebenso die Energie.
Sicher betrifft das Beschriebene nicht jeden palliativ tumorkranken Patienten. Wenn ich jedoch die Liste derer anschaue, die ich in dieser Woche behandle, so ist ein ganzer Teil neben der onkologischen Therapie betreuungsbedürftig. Doch wer soll diese Aufgabe zwischen der Onkologie und Palliativmedizin übernehmen? Vielleicht das Ehrenamt – ich habe diese Frage in unserem Verein „Mit uns im Leben“ gestellt und sofort haben sich 5 Angehörige ehemaliger Patienten bereiterklärt, eine solche Betreuung zu übernehmen. Sie haben durch die Begleitung ihrer eigenen Partner erlebt, welche Bedürfnisse bestehen können und welche Lösungsmöglichkeiten es gibt. Wir werden es als Pilotprojekt unterstützen und sehen, was daraus wird. Es gibt jedoch nicht überall ein solches Netzwerk.
Es ist nicht ratsam darauf zu warten, bis die Gesundheitspolitik uns Lösungen anbietet; insbesondere in einer Zeit, in der das Thema Covid alles andere in den Hintergrund geschoben hat. Bis die Bedürfnisse ein öffentliches Ohr finden, vergehen viele Jahre.
Die Zahl der palliativ tumorkranken Menschen wird weiter deutlich zunehmen. Es wird notwendig sein, Angebote zu schaffen, die dabei helfen, länger besser zu leben. Eine Lücke, die durch die aktuellen Behandlungssysteme nicht geschlossen werden kann.
Autor: Olav Heringer, Gemeinschaftspraxis für Hämatologie und internistische Onkologie im Fachärztezentrum Medicum, Wiesbaden