OncoCoach und OnCoPaTh: Reicht das?
Auch in unserem medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) wurden MitarbeiterInnen inzwischen zum OncoCoach weitergebildet. Alle KollegInnen, die ich auf dieses Thema anspreche, sind mehrheitlich in der täglichen Umsetzung von den Vorzügen dieser Versorgungsverbesserung überzeugt: 1. Weil sie die Versorgungsqualität unserer PatientInnen medizinisch und sozial verbessert. Aber auch 2. weil sie uns OnkologInnen erheblich entlastet. Vieles, was wir früher in unseren Sprechstundengesprächen nur unzureichend mit den PatientInnen thematisieren, geschweige denn in der Tragweite der Probleme klären konnten, macht nun der OncoCoach umfassender und besser. Die Rückmeldungen der so Versorgten sind durchgehend positiv, zumindest dem selbstzufriedenen Gefühl von uns niedergelassenen Onkologen beim Feierabend-Resümee nach. Dass die Verbesserung dieser so erreichten neuen Versorgungsqualität auch gemessen werden sollte, ist unstrittig. Und dass bei nachgewiesener Verbesserung in solchen Versorgungssystemen z. B. durch die OnCoPaTh-Studie auch eine entsprechende Vergütung für diesen erheblichen Mehraufwand gefordert werden muss, ist ebenfalls eine lange ausstehende Konsequenz. Schließlich könnten durch z. B. vermiedene Krankenhausaufenthalte, nicht-simultan erfolgende Konsultierung anderer Berufs- oder medizinischer Fachgruppen Mehrkosten im Gesundheitssystem eingespart werden.
Doch deckt dieses System umfassend die Bedürfnisse unserer PatientInnen ab? Die klare Antwort lautet: Nein!
Zu mir kommen viele Patienten auch deswegen, weil über dem assoziierten Krankenhaus, auf deren Gelände sich unser onkologisches MVZ befindet, das Banner „Klinik für anthroposophische Medizin“ schwebt. Hier werden den Patienten integrativ Schulmedizin und alternative Ergänzungen (in diesem Fall anthroposophisch geprägte Heilverfahren) angeboten. Bereits bei meinem ersten Kontakt mit den Patienten kommt eine fast ausschließlich positive Resonanz der Patienten aus dem vorangegangenen Klinik-Aufenthalt. Insbesondere diejenigen Patienten, die eine reguläre Versorgung z. B. in einem städtischen Haus oder in der Universitätsmedizin erlebt haben und vergleichen können, berichten beseelt von den Angeboten, die sie hier im Krankenhaus erlebt haben. Diese Angebote reichen von Musik- über Gestalt-Therapie, Heileurythmie über manuelle Therapieverfahren (Wickel, rhythmische Massage, Sprechtherapie) bis hin zu medikamentösen Ergänzungen aus dem Spektrum der anthroposophischen Medizin (allen Onkologen bekannt natürlich durch die kontrovers diskutierte Mistel-Therapie). Das Eigenartige daran: PatientInnen, die eine schulmedizinische Behandlung ihrer onkologischen Erkrankung bisher strikt abgelehnt haben, sind auf einmal bereit, z. B. eine Vierfach-Therapie ihres Bronchialkarzinoms durchführen zu lassen. Oder eine Patientin mit triple-negativer Mammakarzinom-Erkrankung lässt sich auf die neoadjuvante Chemotherapie ein und vertraut nicht mehr ausschließlich ihrer sie begleitenden Heilpraktikerin.
Woran liegt das?
Der Schlüssel liegt ersten in der Wahrnehmung und zweitens in der Befriedigung von Teilen der spirituellen Bedürfnisse, die die meisten Patienten mehr oder weniger stark empfinden, insbesondere wenn sie einer das Leben durchrüttelnden Belastungssituation wie einer neu diagnostizierten onkologischen Erkrankung gegenüberstehen. Eine kleine Studie mit 383 volljährigen PatientInnen in einer Notaufnahme-Situation hat sich dieses Themas exemplarisch angenommen: In dieser Studie wurde bisher „nur“ untersucht, ob Patienten in einer Notfall-Situation auch bereit sind, ihre spirituellen Bedürfnisse in das Versorgungsgeschehen zu integrieren und zu artikulieren. Zudem wurde dieses Verlangen nach Spiritualität auf die Abhängigkeit von religiöser Lebensweise, Alter, Komorbidität, schwere des Konsultationsgrundes untersucht. Bis auf das bei Frauen etwas stärker als bei Männern ausgeprägte religiöse Bedürfnis-Spektrum beeinflusste keine der weiteren oben genannten Variablen das Bedürfnis nach Spiritualität (Alter, Komorbidität, Grund der Vorstellung in der Notaufnahme).
Wie die spirituellen Bedürfnisse die Behandlungsqualität/-ergebnisse beeinflussen, wurde in dieser Studie (leider) noch nicht gemessen.
Was bedeutet das aber nun für uns OnkologInnen? Müssen wir nun neben all den medizinisch fachlichen Fragen, den Versorgungsnöten im sozialen Bereich auch noch eine spirituelle Heimat für unsere Patienten etablieren? Zumal ich aus eigener Erfahrung hier betonen möchte, dass diese PatientInnen einen erheblichen (!) zeitlichen Mehraufwand in den Gesprächen bedeuten, der sich selbstverständlich NICHT in einer angepassteren Vergütung wiederfindet! So wurde unser onkologisches MVZ inzwischen auch weit über unseren regionalen Einzugsbereich bei Patienten, aber auch einweisenden KollegInnen bekannt als „Zentrum für den Schweren-Patienten“. Wirtschaftlich bedeutet das bisher einen Nachteil. Also doch abblocken, wenn das Thema auf Spiritualität geschwenkt wird? Und welche alternativen Therapieformen sind wir überhaupt bereit, als Evidence-based-Mediziner unseren Patienten anzubieten? Zumal viele dieser Therapieformen durch die fehlende Kostenerstattung vom Patienten selbst getragen werden müssen. Sehr gut empfinde ich daher den Ansatz der OnCoPaTh-Studie, den Teilnehmern Zugang zu einer wissenschaftlichen Datenbank und auch zu komplementärmedizinischen Ansätzen zur Verfügung zu stellen. Ein sorgsamer Umgang mit ausgewählten und mit der eigenen Haltung vereinbarten Verfahren könnte so vielleicht der erste Schritt in die umfassendere „ganzheitliche“ Versorgung unserer Patienten werden. Auch eine „Auslagerung“ des spirituellen Therapie- und Gesprächsangebotes an andere Berufsgruppen innerhalb der Praxis – wäre ein zur Vermeidung eines noch weiter ansteigenden Arbeitsumfanges des Onkologen nachvollziehbarer Gedankengang.
Mich befriedigt es immer wieder, wenn sich durch die umfassendere Wahrnehmung der spirituellen Bedürfnisse Patienten für eine wirksame Therapie öffnen können. Und vielleicht lohnt sich dann auch mal eine interne Studie zur Vermeidung von Krankenhausaufenthalten und sekundären Kostenersparnissen für spirituell besser versorgte Patenten...
Autor: Arne Müßig, Facharzt für Innere Medizin, Hämatologie und Onkologie am MVZ Havelhöhe, Berlin