Patienten erzählen
Die Sicht des Onkologen
Niemand bezweifelt heute ernsthaft, dass körperliche Aktivität unabhängig von Alter, Geschlecht und Lebenssituation sinnvoll ist. Für viele Erkrankungen wie Diabetes, Herz-Kreislauf- und Lungenerkrankungen ist es inzwischen vielfach durch Studien belegt. Aus dem Bereich der Geriatrie zeigen Daten zur Sarkopenie, wie sehr der Verlust an Muskulatur im Alter unsere Prognose beeinflusst. Dabei bedeutet der physiologische Abbau der Skelettmuskulatur mit zunehmenden Lebensjahren (primäre Sarkopenie) ein erhöhtes Sturz- und Frakturrisiko. Krankheitsassoziierter Muskelverlust (sekundäre Sarkopenie) führt zu metabolischen Veränderungen mit einer Beeinträchtigung der Immunabwehr. Im Rahmen onkologischer Therapien folgen vermehrt therapieassoziierte Nebenwirkungen und erhöhte Abbruchraten durch Komplikationen (1). Doch wie kann man im ambulanten Setting einer onkologischen Praxis Patienten zur Bewegung motivieren?
Das Bedürfnis selbst etwas gegen die Erkrankung zu tun
Es vergeht kaum ein Erstgespräch mit einem Tumorpatienten, in dem nicht die Frage nach den eigenen Möglichkeiten gestellt wird. Diese Ressource des Betroffenen gilt es unbedingt zu nutzen. Die angesprochenen Themen sind regelmäßig Bewegung, Ernährung, Psychoonkologie und Möglichkeiten der Komplementärtherapie. Dabei ist wichtig, die Erkrankten vor unseriösen oder gar bedrohlichen Maßnahmen zu schützen, denn das Angebot insbesondere aus dem Bereich der komplementärmedizinischen Methoden ist für den Laien nahezu undurchschaubar. Es ist wünschenswert, dass die betreuenden Ärzte (Hausarzt, Onkologe, Strahlentherapeut etc.) in der Lage sind, eine ausreichende Beratung durchzuführen oder Beratungsangebote zu vermitteln. Doch hierbei ist der persönliche Einsatz des Arztes gefordert, sich mit den Möglichkeiten, die dem Erkrankten helfen könnten, vertraut zu machen.
Wichtige Unterstützung liefern hier die Psychosozialen Krebsberatungsstellen.
Bewegung hilft nicht nur dem Körper
Die Diagnose einer Tumorerkrankung führt bei den Betroffenen durchschnittlich zu einer Verminderung der körperlichen Aktivität um 20-30%. Besonders gravierend wirkt sich Bettruhe auf die Patienten aus; bei über 60jährigen reicht eine einwöchige Immobilität, um durch Verlust an Skelettmuskulatur einen Kraftverlust von 20% nachweisen zu können. Parallel sinkt das Gesamtblutvolumen ebenso wie die Sauerstoffaufnahmekapazität der Lunge. Neben der damit verbundenen Steigerung der Infektanfälligkeit und des Thromboserisikos kann bereits nach 10 Tagen eine Reduktion der geistigen Leistungsfähigkeit nachgewiesen werden. In Verbindung mit einer onkologischen Erkrankung ist Immobilität damit ein zusätzlicher Risikofaktor für Komplikationen.
Neben den körperlich positiven Auswirkungen führt Bewegung auch zur Verbesserung des psychischen Befindens. Die zunehmende Fatigue wird von vielen Tumorpatienten als besonders beeinträchtigend empfunden. Durch körperliche Aktivität kann sie verbessert werden. Hinzu kommt die Abnahme des Angstniveaus und der depressiven Krankheitsverarbeitung (2).
Betrachtet man die negativen Auswirkungen von Immobilität, so ist es nur logisch, dem Patienten unmittelbar bei Diagnosestellung körperliche Aktivität zum Erhalt körperlichen Funktionen und der Lebensqualität zu empfehlen.
Bewegungsangebote für Krebspatienten
Bereits seit vielen Jahren sind Koronarsportgruppen gut organisierte und allseits anerkannte Bewegungsangebote für Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Für den Bereich der Brustkrebspatientinnen bestehen DMP-Sportgruppen, in denen die Betroffenen unmittelbar nach Abschluss der Behandlung ein zeitlich befristetes und strukturiertes Angebot wahrnehmen können.
Im Bereich der Onkologie hat sich in den vergangenen Jahren das Bewusstsein hin zur Bewegung verändert. Die deutlich verbesserten Überlebenszeiten auch palliativer Tumorerkrankungen zeigen die Notwendigkeit, dieser Patientengruppe etwas anzubieten. Hier existieren bisher hauptsächlich lokale Initiativen.
Sektorenübergreifendes Projekt Wiesbaden
Es bedurfte nur eines einzelnen Treffens der Interessierten, sich darüber zu verständigen, dass neben der onkologischen Behandlung der Patienten Angebote notwendig sind, die dabei helfen, trotz einer bedrohlichen Erkrankung im Leben zu bleiben. Somit entstand ein Arbeitskreis aus Ärzten verschiedener Fachrichtungen (Onkologie, Palliativmedizin, Gynäkologie, Strahlentherapie), Patienten und Angehörigen.
Zunächst war der Anspruch, niedrigschwellige Angebote zu schaffen. Es wurde ein Flyer erstellt, in dem die jeweiligen Ansprechpartner mit ihrem Angebot beschrieben wurden. So entstanden Beratungssprechstunden für Bewegung, Ernährung, Psychoonkologie und Komplementärmedizin. Erste aktive Angebote konnten umgesetzt werden (Nordic Walking, Tagesausflüge).
Ziel der Projekte sollte es sein, diese möglichst vielen Patienten zugänglich zu machen. Daher haben wir uns im Verlauf entschlossen, eine Plattform zu bieten. Der Verein „Mit uns im Leben e.V.“ wurde gegründet. Hier können digital über eine Webseite Angebote sichtbar gemacht werden. Separate E-Mails an die Mitglieder unterstützen die Verbreitung. Innerhalb eines Jahres gewann der Verein über 100 Mitglieder und durch die Bildung kleiner Arbeitsgruppen werden immer wieder neue Projekte wie z. B. Buchlesungen, ein Stammtisch, Tagesausflüge etc. ins Leben gerufen.
Neben den Mitgliedsbeiträgen kann der Verein Spenden annehmen, so dass finanzielle Mittel für Aktivitäten zur Verfügung stehen.
Hinzu kommt der Kontakt zur Stiftung „Leben mit Krebs“. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, Bewegungsprojekte für onkologische Patienten deutschlandweit zu etablieren. Durch einen Antrag mit Beschreibung der Initiative können zusätzliche Unterstützungen angefragt werden.
Hilfe zur Selbsthilfe
Insbesondere das Thema körperliche Aktivität scheitert am häufigsten an der Umsetzung. Wenn der Patient nicht schon vor seiner Erkrankung in einer Sportgruppe/ -verein integriert war, so fällt es gerade im Rahmen einer onkologischen Diagnose besonders schwer, sich zu orientieren und den Mut aufzubringen, sich einer bestehenden Struktur zu nähern. Wiederholt haben Patienten den Wunsch geäußert, eine praktische Unterstützung zu bekommen.
Als besonders erfolgreich hat sich das Konzept der Selbsthilfe gezeigt. Eine ehemalige Patientin, die sich intensiv mit dem Thema Nordic Walking beschäftigte, konnten wir als Kopf für eine Gruppe gewinnen, die sich einmal wöchentlich zu einem gemeinsamen Lauf trifft. Das Besondere ist die sofortige Bereitschaft, „neue“ Menschen aufzunehmen und die gegenseitige Rücksichtnahme. Die Schicksale des Einzelnen werden durch die Gruppe mitgetragen und auch Verluste führen zu einer engeren Verbundenheit der Beteiligten. Als Ärzte konnten wir in den Hintergrund treten, so dass sich inzwischen eine vollständig selbständige Einheit gebildet hat. Neben den regelmäßigen sportlichen Treffen der inzwischen 20 Frauen und Männer, werden auch kleine Reisen zu „Volksläufen“ selbstständig organisiert.
Partnerschaft und Krebs
Zu Beginn einer Tumorerkrankung treten die meisten Bedürfnisse des sonstigen Lebens in den Hintergrund. Themen der Partnerschaft und Zweisamkeit werden dem einzigen Wunsch des Überlebens untergeordnet.
Durch die Verlängerung der Lebenszeit und Verbesserung der Lebensqualität auch in palliativer Tumorsituation, nimmt die Bedeutung der Beziehung der Lebenspartner zu.
Wir haben uns daher entschlossen, Bewegungsreisen unter Einschluss der Partner anzubieten. Seit 2011 organisieren wir jährlich eine Winterwoche mit Skilanglauf und Schneeschuhwanderungen. Je nach Vorkenntnissen und körperlicher Verfassung werden kleine Teams gebildet, die speziell nach ihren Bedürfnissen mit einem Trainer ihre Fähigkeiten verbessern. Dabei steht der Spaß an der Bewegung in der Gruppe im Vordergrund; kleine Vergleichsspiele dienen mehr dem Spaß als dem sportlichen Messen.
Im Sommer können sich Patienten und Angehörige zu einer Wanderwoche in den Tiroler Alpen anmelden. Begleitet werden die Reisen jeweils von einem Onkologen/-in und einer Pflegekraft, die sich um gegebenenfalls auftretende Beschwerden der Patienten kümmern und organisatorische Fragen klären.
Neben den sportlichen Aspekten dienen diese Reisen insbesondere den sozialen Kontakten der Patienten untereinander und mit ihren Partnern. Auch diese finden „Gleichgesinnte“, so dass regelmäßig eine Gruppendynamik entsteht, die von gegenseitigem Wahrnehmen, Rücksichtnahme und Mitgefühl geprägt ist. Nahezu alle Menschen, die an einer solchen Reise teilgenommen haben, empfinden sich anschließend sowohl in ihrer körperlichen als auch psychischen Verfassung deutlich verbessert.
Für Paare ergibt sich die Möglichkeit, sich abseits des „Alltags“, der häufig durch die Erkrankung geprägt ist, zu treffen und wieder wahrzunehmen.
Fazit
Menschen mit einer Tumorerkrankung benötigen nicht nur einen Arzt, der mit ihnen die onkologischen Behandlungen durchführt. Durch die verbesserten Therapiemöglichkeiten und deutlich verlängerten Lebenszeiten rücken Themen wie Bewegung, Reisen, LEBEN und Partnerschaft wieder in den Vordergrund.
Hier gilt es, flächendeckend Angebote zu schaffen, die dem Patienten helfen, aktiv „im“ Leben zu bleiben.
Am letzten Tag einer Wanderreise sagte eine Patientin: „Jetzt habe ich wieder sechs gute Tage auf der Habenseite“.
Autor
Olav Heringer, Gemeinschaftspraxis für Hämatologie und internistische Onkologie im Fachärztezentrum Medicum, Wiesbaden