First line als Second line?
Es ist wieder einmal so weit: Schlaumeiers liebste Stunden – die Tumorkonferenz, was sonst?! Es ist 17:34 und es geht ums HCC. Ein Kollege aus der Gastroenterologie stellt einen Patienten vor. Die Indikation zur medikamentösen Therapie nach Ausschöpfung lokal-ablativer Maßnahmen wurde zum ersten Mal bereits nach intensiver interdisziplinärer Diskussion im vergangenen Sommer 2020 gestellt. Da lautete die damals Leitlinien-konforme Antwort: Lenvatinib. Mit dieser Therapie hat der Patient ein halbes Jahr mit seiner stabilisierten Erkrankung ordentlich gelebt. Nun aber der Nachweis des Progresses. Die auf großem Bildschirm präsentierten MRT-Bilder untermauern auch mit abgesetzter Brille eindrucksvoll den Handlungsbedarf.
„Immuntherapie plus VEGF-Antagonist!“ Der vorschlagende Kollege neben mir wirkt sichtlich erfreut. Die meisten Onkologen schätzen die Möglichkeiten der Immuntherapie, auch VEGF-Antikörper sind uns mit Blick auf häufig vorkommende schwere Nebenwirkungen bzw. ihre Abwesenheit eher sympathisch. Doch die den aktuellen Therapievorschlag wie ein Sieg feiernde Frohnatur hat ihre Rechnung ohne meine Lieblingskollegin gemacht. Ich lehne mich zurück und freue mich über das die Tristesse der Veranstaltung aufbrechende Duell.
„Ist nur First-line“, sagt sie nur knapp, in ihrer Bestimmtheit auch nicht unterbrochen von der schlechten Übertragungsqualität des WLAN; die Kollegin ist in Pandemie-Zeiten online zugeschaltet. Der Stich geht an sie, denke ich mir. Doch der Immuntherapie-Kollege atmet ein (hinter dem Mundschutz): „Gab`s damals halt noch nicht!“ (gemeint ist die Zulassung der Immun-antiVEGF-Therapie-Kombination zum Zeitpunkt der Erstlinien-Therapie Festlegung bei dem zur Diskussion stehenden Patienten). Der Gegentreffer zählt nicht, raunt es in mir: Das war Abseits! Ob die Krankenkassen im Falle einer Überprüfung von diesem Argument wirklich so einfach überzeugt wären? Und der Regress wäre bei erfolgreicher, daher ggf. bereits auch unter HCC-Relation gewichteter „langzeitig“ erfolgter Therapie bei dieser Hochpreis-Kombination schon mit dem Gegenwert einer kleinen Eigentumswohnung zu beziffern. Es kitzelt am Haaransatz. Alle hier wollen das Beste für den Patienten. Und die meisten Teilnehmer würden inhaltlich für den Therapievorschlag des nicht mehr ganz so siegesgewiss dreinschauenden Kollegen stimmen. Belastbare Daten im Rahmen einer Studie zur Anwendung der Immuntherapie-VEGF-Antikörper-Kombination nach Lenvima in der ersten Linie existieren (noch) nicht. Und im umgekehrten Fall (der Patient hätte seine Erstlinien-Therapie nach der aktuellen Leitlinie mit Immun-Anti-VEGF-Therapie erhalten und nun würde in der Zweitlinie Lenvima in den Diskussions-Ring geworfen werden[siehe Patient & Praxis) würden wir in einer weiteren Linien-Diskussions-Sackgasse feststecken.
Diese Debatten nehmen immer mehr zu. Durch die zur Zulassung führenden Studien und deren Einschlusskriterien ist flächendeckend ein Szenario „nach Vorbehandlung mit Medikament x und Medikament y“ oder „wenn medizinische Kontraindikationen für Präparateklasse z bestehen“ oder eben „als Erstlinien-Therapie“ die Regel und nicht die Ausnahme geworden. Macht das Sinn? Oder beschneidet diese bürokratisch wirkende Festlegung im Zulassungstext einfach nur böswillig unsere ärztlich-onkologische Kreativität?
Ich meine: Nein, nicht in allen Fällen. Ein Beispiel: Ein Patient mit nicht-kleinzelligem Lungenkarzinom mit einer Exon-19 Mutation erhält einen passenden Tyrosinkinase-Inhibitor in der Erstlinien-Therapie. Nun kommt es (nach Ausschöpfung aller Resistenzmutations-Überprüfungen und Medikamente) zum Progress. Viele – mich eingeschlossen – hätten nun überlegt, eine Zweitlinientherapie mit einem Immuntherapeutikum durchzuführen. Bei aggressiver Spielweise der Erkrankung ggf. auch in Kombination mit einer Chemotherapie. So wie wir es früher gemacht haben, als noch nicht (fast) alle Patienten bereits in der Erstlinie eine Immuntherapie(-kombination) erhalten haben. Doch dieser Reflex würde dem Patienten in unserem Beispiel unter Umständen keinen großen therapeutischen Gefallen tun. Die Datenlage von Immuntherapien nach TKI-Vorbehandlung ist dünnes Eis, viele Studien zeigen keine überzeugende Wirkung bei Patienten dieser EGFR-mutierten Subgruppe. Ein Kompromiss scheint für einige die Analyse der kleinen Subgruppe aus der Impower 150 Studie und folglich eine analoge Therapieempfehlung zu sein. Ohne zu weit abschweifen zu wollen: Das Beispiel soll zeigen, dass in einer ständig wachsenden Therapielandschaft mit gänzlich verschiedenen Therapieansätzen – klassische Chemotherapie, Immuntherapie, Antikörper und TKI – die Reihenfolge der Therapien bezüglich Prognose und Wirksamkeit eben doch spielentscheidend wirksam werden kann. Wir erinnern uns allein an Glaubenskriegs-artige Zustände zum Thema der Therapie-Reihenfolge der zusätzlichen VEGF- oder EGFR-Antikörper bei metastasierten Wildtyp-RAS linksseitigen Kolonkarzinomen.
„Was meinen Sie denn, Herr Kollege?“ Ich werde aus meinen Gedanken herausgerissen und bin doch ganz dankbar dafür, weil mir sonst noch viele Beispiele für unsere onkologischen Linien-Duelle einfallen würden.
Es endet wie immer: In einem Kompromiss! Den Beschluss des Tumorkonferenz-Protokolls ziert nun die Bandwurm-Zeile: „Empfohlen wird eine Kombinationstherapie mit Immun- und VEGF-Antikörper nach Stellung eines Kostenübernahme-Antrages bei der Krankenkasse, da diese Kombination in der aktuell nur als Erstlinien-Behandlung zugelassen ist. Diese Therapieoption bestand ehemals bei Festlegung der Erstlinien-Therapie noch nicht. Sie erscheint den Teilnehmern der Tumorkonferenz in Abwägung zwischen der potenziellen Wirkung auf die Erkrankung zur für den Patienten zu erwartender körperlicher Belastung die zu favorisierende Therapie zu sein. Puh, hoffentlich hat der nächste Patient kein HCC…
Autor
Arne Müßig, Facharzt für Innere Medizin, Hämatologie und Onkologie am MVZ Havelhöhe, Berlin
Juristische Anmerkung von Gerhard Nitz (Berlin):
Ich teile den von Arne Müßig und Olav Heringer kritisierten Befund, dass Arzneimittelzulassungen immer spezifischer formuliert werden, etwa im Hinblick auf einen bestimmten Kombinationspartner und eine bestimmte Therapielinie. Während früher auf der Grundlage geringer Evidenz breite Zulassungen erteilt wurden, die teilweise ganze Tumorentitäten umfassten, zeichnen heutige Zulassungen zunehmend nur noch das Design der Zulassungsstudie nach. Vorteil dieser Zulassungspraxis ist freilich, dass die in der Zulassungsentscheidung steckende Aussage zu Wirksamkeit und Sicherheit der Arzneitherapie mit hoher Wahrscheinlichkeit gut belegt ist. Praktische Probleme ergeben sich aber, wenn die konkrete Behandlungssituation bei einem Patienten mit dem Studiensetting und damit mit der Zulassung nicht übereinstimmt. Dies betrifft nicht nur die von Müßig und Heringer beschriebene Situation, in der die als First-line zugelassene Therapie aufgrund ihres Wirkprinzips auch als Second-line sinnvoll erscheint. Problematisch ist auch, wenn sich aufgrund des therapeutischen Fortschritts die Einschätzungen zu den Therapielinien oder Kombinationspartnern ändern und die Zulassung damit möglicherweise keinen Anwendungsbereich mehr hat. In all diesen Konstellationen liegt der Off-Label-Use nahe.
Aber ist er auch zulässig? Die sich hier stellenden Probleme sind in der Rechtsprechung bislang nicht diskutiert worden. Richtig dürfte es sein, die Antwort aus den Überlegungen abzuleiten, die der sozialgerichtlichen Rechtsprechung zum Off-Label-Use zugrunde liegt. Danach ist ein Off-Label-Use zulasten gesetzlicher Krankenkassen im Regelfall deshalb unzulässig, weil die für die Wirksamkeitsbeurteilung zuständige Behörde die Wirksamkeit des Arzneimittels in dem Off Label-Anwendungsbereich nicht positiv festgestellt hat. Aus dieser Überlegung folgt meines Erachtens, dass man bei der Bewertung, ob ein Therapieansatz off label ist, nicht nur in die aktuelle Fachinformation des betroffenen Arzneimittels schauen darf, sondern sämtliche Zulassungen in den Blick nehmen muss.
Am Beispiel: Der aktuellen Fachinformation von Avastin® kann ich nicht entnehmen, dass Bevacizumab für HCC zugelassen ist. Trotzdem dürfte die Kombination mit Atezolizumab in dem Umfang kein unzulässiger Off-Label-Use sein, in dem sie in der Zulassung von Tecentriq® zugelassen wurde. Die Zulassungsbehörde hat ja mit der Zulassung von Tecentriq die Kombination von Atezolizumab mit Bevacizumab positiv bewertet. Damit ist diese Therapie in den in der Fachinformation von Tecentriq® beschriebenen Grenzen wirksam und sicher und kein Off-Label-Use, auch wenn sich dazu in der Fachinformation von Avastin® kein Wort findet.
Anders dürfte es aber in dem von Müßig und Heringer geschilderten Fall liegen. Die Zulassung von Tecentriq® in Kombination mit Bevacizumab ist explizit auf die Behandlung erwachsener Patienten zur Behandlung des fortgeschrittenen oder nicht resezierbaren HCC beschränkt, „die keine vorherige systemische Behandlung erhalten haben“. Hat der Patient jedoch eine vorherige systemische Behandlung mit Lenvatinib erhalten, ist diese Voraussetzung nicht erfüllt – da beißt die Maus keinen Faden ab. Die Behandlung mit der Kombination von Atezolizumab mit Bevacizumab ist also im sozialrechtlichen Sinne ein Off-Label-Use. Ein ausnahmsweise zulässiger Off-Label-Use setzt nach der ständigen sozialgerichtlichen Rechtsprechung unter anderem voraus, dass es keine zugelassene therapeutische Alternative gibt. Die ist hier aber mit Sorafenib verfügbar. Es ist deshalb jedenfalls sehr wahrscheinlich, dass ein solcher Off-Label-Use unzulässig wäre. Deshalb besteht meines Erachtens ein relevantes Regressrisiko. Genau um ein solches zu vermeiden, gibt die Rechtsprechung in solchen Off Label-Konstellationen den Ärzten ausnahmsweise die Möglichkeit, vorab eine Genehmigung der Krankenkasse einzuholen. Lehnt die Krankenkasse die Genehmigung ab, kann die Therapie nur durchgeführt werden, wenn der Patient sie über Rechtsmittel gegen seine Krankenkasse durchsetzt (Widerspruch, Klage, ggf. einstweilige Anordnung).
Das ist leider wenig erfreulich, aber Konsequenz der sozialrechtlichen Rechtsprechung.
Autor
Dr. Gerhard Nitz, Fachanwalt für Medizinrecht, GND Geiger Nitz Daunderer Rechtsanwälte PartG mbB, Berlin, www.gnd-law.de