Quergedacht

Myelom-Therapie einer hochbetagten Patientin

 

Bei einer heute 86-jährigen Patientin wurde 2016 die Diagnose eines Smouldering Myeloma vom Typ IgA-kappa gestellt. Sie wies seinerzeit keine CRAB-Kriterien auf. Im Knochenmark zeigte sich neben einer ca. 40%igen Infiltration durch monotypische Plasmazellen eine geringe fokale Myelofibrose (MF-1).

 

Fünf Jahre später stellte sich die Patientin mit einer zunehmenden Anämie (Hb 8,3 g/dl) und etwas eingeschränkten Nierenfunktion (Crea 1,14 mg/dl, GFR 44 ml/min) sowie einem ß2-MG von 7,7 mg/dl erneut vor. Im Knochenmark fand sich nun eine ca. 70%ige Plasmazell-Infiltration (mit Nachweis einer 13q14-Deletion, jedoch ohne TP53/17p-Deletion), im Urin ergab sich eine kräftige Bence-Jones-Proteinurie. Im CT zeigte sich eine ausgeprägte Osteopenie ohne plasmozytomspezifische Osteolysen.

 

Somit bestand eine Therapieindikation des Multiplen Myeloms.

 

Die Patientin erscheint rüstig und versorgt sich weitgehend selbstständig. Ein Sohn lebt mit Familie im selben Haus. Nebenbefundlich berichtet die Patientin über eine Tiefe Beinvenenthrombose 2020, Z. n. GI-Blutung 2021, Paroxysmales Vorhofflimmern, Z. n. Schultergelenkprothese 2020 und u.a. ein degeneratives Zervikalsyndrom.

 

Eine – eventuell mögliche – Therapieeinleitung mit einer 3- oder 4-fach-Kombination wird von ihr mit Verweis auf ihr Alter und ihre Lebensqualität (häufigere Visiten in der Praxis) abgelehnt.

 

So entscheiden wir uns für eine rein orale Therapie mit Lenalidomid und Dexamethason. Hierunter entwickelte die Patientin jedoch einen für sie extrem belastenden Juckreiz, der zum Therapieabbruch führte. Als Alternative – und bei weiterhin Ablehnung einer intensivierten Therapie – haben wir daher in der Folge eine Behandlung mit einer wöchentlichen Gabe von Bortezomib und Dexamethason eingeleitet.

 

Hierunter sehen wir – nach jetzt viermonatiger Therapie – ein mäßiges Ansprechen mit leichter Reduktion der Paraproteinämie (IgA 45 g/l), Verbesserung der Nierenfunktion (Crea 0,93 mg/dl; GFR 56 ml/min) sowie Hb-Anstieg (auf 10,2 g/dl). Die aktuelle, wöchentliche Therapie wird gut und ohne subjektiv belastende Nebenwirkungen vertragen.

 

Sicherlich wäre durch eine Intensivierung der Behandlung (z. B. Hinzunahme einer CD38-Ak-Therapie) eine schnellere und tiefere Remission zu erwarten. Allerdings ist insbesondere die Patientin (nachvollziehbar) nicht bereit, ein hierdurch mögliches, höheres Risiko für eine Einschränkung ihrer Lebensqualität zu tragen.

 

Somit werden wir zunächst – nur in Teilen der aktuellen EHA-ESMO-Leitlinie folgend – im „informed consent“ mit der Patientin die Zweifach-Kombinationstherapie fortsetzen, solange ein Ansprechen zu sehen ist und diese Behandlung gut vertragen wird. Sämtliches mit dem Ziel eines möglichen langen Erhaltens einer möglichst hohen Lebensqualität für die hier im Mittelpunkt stehende 86-jährige Patientin.

 

Autor: Dr. med. Henning Pelz, Onkologie Offenburg – Ambulantes Therapiezentrum für Hämatologie & Onkologie

 

Leitlinien – inwieweit unterstützen sie die praktische Arbeit?

 

Empfehlungsgrad I, A

 

Leitlinie

 

„Hand aufs Herz“ – können Sie spontan alle Zulassungstexte der aktuell verfügbaren Medikamente für die first-line des Multiplen Myeloms wiedergeben? Ich nicht…! Nun sitzt eine Patientin vor meinem Sprechzimmer, hat ein Multiples Myelom und wir besprechen gleich die therapeutischen Alternativen. Zur Unterstützung gebe ich „Leitlinie Multiples Myelom“ in meinen PC ein. Dort lese ich in den EHA-ESMO-Leitlinien unter anderem die obigen Empfehlungen. Wie im Falle des Kollegen Pelz habe ich eine ältere Patientin ohne wesentliche Komorbiditäten, die aufgrund ihres Alters nicht transplantationsfähig ist. Nach Leitlinie sollte ich dieser Dame eine 3- oder 4-fach Kombination geben und dies kontinuierlich. Noch, ohne mit der Betroffenen gesprochen zu haben ist mir klar, dass die Empfehlungen DaraVMP oder DaraRd bzw. VRd für sie nicht passen werden. Sie kann aufgrund der räumlichen Distanz, ihrem pflegebedürftigen Ehemann und ihrem eigenen Wunsch nicht ein bis zweimal wöchentlich in die Praxis kommen. Wir gehen also in das Gespräch und ich sage ihr, dass eine Therapie mit Infusionen einmal pro Woche und gegebenenfalls eine Tablette parallel große Aussicht haben, ihre Krankheit über einen längeren Zeitraum unter Kontrolle zu halten. Zu meiner Überraschung lehnt sie nicht sofort ab, sondern fragt mich, wie lange sie diese Behandlung machen soll. Trotz aller Umschreibungen wird klar, dass die Empfehlung lautet, dass die Therapie bis zum Progress gegeben werden sollte. An diesem Punkt gibt sie mir unmissverständlich zu verstehen, dass sie es traurig findet, dass mir nichts „Vernünftiges“ einfällt.

 

Ich erkläre ihr die Entstehung von Studien, Auswertung der Ergebnisse, Erstellung von Leitlinien und dem Versuch, für Patienten das Bestmögliche zu erreichen. Sie beantwortet meine Ausführungen mit einer Gegenfrage: „Geht es bei den Studien nur um Zeit?“ Leicht angeschlagen erwidere ich, dass „in den meisten Studien heute Lebensqualitätsfragebögen ausgewertet werden, um den Effekt und auch die Belastung der Behandlung festzuhalten.“

 

Das Gespräch verdeutlicht mir einmal mehr, dass die Realität der Praxis in Studien nicht abgebildet wird und wahrscheinlich auch gar nicht abgebildet werden kann. Ebenso geht es mit den Leitlinien. Sie orientieren ihre Empfehlungen an den Studienergebnissen und sind damit Zusammenfassungen der Ergebnisse, ganz unabhängig vom praktischen Leben. Um es nicht falsch verstanden zu werden – ich bin sicher kein Kritiker der Leitlinie! Sie ist eine gute Orientierung. Wir können uns dennoch von dem „schlechten Gewissen“ befreien, wenn wir aus medizinischen und sozialen Gründen anders handeln als sie uns empfiehlt. Die Komorbiditäten sind nur ein Kriterium.

 

Die Betreuung eines onkologisch Erkrankten ist sehr vielschichtig und Entscheidungen für oder gegen eine Therapie sind häufig nicht nur krankheitsbezogen.

 

Meine Patientin hat eine Infusionstherapie abgelehnt und ist seit 6 Monaten mit einer oralen Behandlung versorgt. Inzwischen kommt sie einmal pro Quartal in die Praxis; die Blutkontrollen macht sie heimatnah bei ihrem Hausarzt und die Rezeptierung erfolgt telefonisch.

 

Gerade hat sie mir eine Karte zur Adventszeit geschickt und sich für die Bereitschaft bedankt, Ihren Weg mitzugehen. Ihr Mann ist in der vergangenen Woche für immer eingeschlafen und sie musste ihn keinen Tag alleine lassen.

 

Autor: Olav Heringer, Gemeinschaftspraxis für Hämatologie und internistische Onkologie im Fachärztezentrum Medicum, Wiesbaden