Eine Strategie
für die ASV

Die ASV als Blaupause für die Herausforderungen des deutschen Gesundheitswesens – vor und nach der Pandemie

 

„Es sind immer die Pflaumen, die Äpfel mit Birnen vergleichen“
Prof. Dr. Hans-Jürgen Quadbeck-Seeger (* 29. Mai 1939)
Ehem. Präsident der Gesellschaft Deutscher Chemiker

 

Es sind viele Themen, über die wir seit gefühlt sehr langer Zeit im deutschen Gesundheitswesen diskutieren. An manchen Stellen sind wir weitergekommen, an anderen Stellen sind wir die letzten knapp zwanzig Jahre nicht wirklich viel vorangeschritten. Eines der Evergreen-Themen ist dabei die Schaffung einer sektorenfreien Versorgung. Sicherlich ist es richtig, dass die Trennung des deutschen Gesundheitssystems in einen ambulanten und stationären Sektor – in der Kapazitätsplanung genauso wie in der Vergütungssystematik – wesentlich dazu beitrug und -trägt, dass vorhandene Effizienzpotenziale nicht ausreichend realisiert werden können. Um integrierte, sektorenübergreifende Versorgungsprozesse sicherzustellen, muss ein Vergütungssystem die richtigen Anreize setzen. Dabei ist die sektorenspezifische Vergütung das wohl gewichtigste Hindernis zur vollständigen Umsetzung der integrierten Versorgung. Betrachtet man Vergleichszahlen auch aus anderen Ländern, kann vielmehr unterstellt werden, dass in Deutschland noch zu viele Patienten vollstationär behandelt werden, obwohl eine ambulant-spezialfachärztliche bzw. teilstationäre Behandlung medizinisch längst möglich wäre – und das trotz demografischem Wandel.

 

Ein erster und damals wirklich bahnbrechender Schritt in die richtige Richtung erfolgte im Jahr 2004 durch das GKV-Modernisierungsgesetz (GMG): Die Zulassung von hochspezialisierten Leistungen und besonderen Erkrankungen nach §116b SGB V. Die Krankenkassen konnten somit erstmals mit den Krankenhäusern gesonderte Verträge über die Erbringung hochspezialisierter Leistungen und besonderer Erkrankungen schließen. Die damalige Zielsetzung war, die Erfahrung der Krankenhäuser mit ihrem interdisziplinären Fachärztebestand und ihrer apparativen Ausstattung für die ambulante Versorgung zu nutzen. Mit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz (GKV-VStG) im Jahr 2011 kam es auch zu einer stufenweisen ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung für (seltene) Erkrankungen auch für den niedergelassenen Bereich – mit gleichen Qualifikationsanforderungen für Arztpraxen und Krankenhäuser. Damit sollten die Sektoren besser verbunden werden. In den darauffolgenden zehn Jahren folgten u. a. durch den G-BA weitere, zahlreiche Regelungen und Vorgaben. Doch wie weit sind wir – systemisch betrachtet – im Jahr 2021 wirklich gekommen?

 

Oder um gleich den (gesundheitsökonomischen) Finger in die Wunde zu legen: Warum hat es der G-BA – als oberstes Gremium der Selbstverwaltung – bis heute noch immer nicht geschafft, für diesen Bereich ein eigenes, geregeltes Abrechnungssystem zu etablieren – obwohl es seit Jahren in seinem Pflichtenheft steht?

 

Ein zunehmender Druck auf die Kliniken sowie auf das Gesundheitssystem als Ganzes hin zu mehr Ambulantisierung ist schon einige Jahre zu beobachten und wurde gesetzgeberisch nochmals durch das MDK-Reformgesetz aus dem Jahr 2019 verstärkt. Durch die Pandemie kommt es abermals zu einer Verstärkung dieser Entwicklung, welche auch danach eine zentrale Rolle spielen wird.

 

Jedoch ist eine „ambulante Behandlung“ am und im Krankenhaus, ebenso wie in einer spezialisierten Facharztpraxis bzw. -zentrum medizinisch-pflegerisch oftmals viel mehr als das, was landläufig unter dem nicht näher definierten Begriff „ambulant“ so vermutetet wird. Auch ohne Übernachtung finden hier eine hoch komplexe Triagierung und Diagnose statt. Gerade in diesen Zeiten wird das deutlicher denn je. Daher müssen diese Aufgaben adäquat vergütet werden.

 

Die ökonomischen Anreize der Patientenbehandlung dürfen sich alleine an der medizinisch-pflegerischen Leistung, und nicht am Faktor „Bett“ oder auch am Faktor „ohne Bett“, orientieren und müssen den Aufwand adäquat abdecken. Hier ist noch Einiges zu tun – und gerade die niedergelassenen Fachärztinnen und Fachärzte wie auch die Krankenhäuser, die sich schon heute an der ASV beteiligen, müssen unbedingt am fachlichen Diskurs beteiligen!

 

Durch die zunehmende Ambulantisierung kommt es im Versorgungsalltag prozessbedingt zu einem Zusammenwachsen der Sektoren. Diese Entwicklung ambulant-spezialfachärztlicher bzw. tagesklinischer Behandlungen ist ein Ergebnis des medizinisch-technischen Fortschritts und wird vor allem in den Ländern verstärkt umgesetzt, in denen weder die Ärzte noch die Krankenhäuser ein (finanzielles) Interesse daran haben, ihre Leistungen vollstationär, d. h. über die Komponente „Bett“ abzurechnen.

 

Wie bereits angeklungen schleicht sich in der „Ambulantisierungs-Debatte“ zumeist bei vielen Beteiligten ein elementarer Denkfehler ein, der sich vor dem Hintergrund der ASV in besonderem Maße zeigt: Wer definiert eigentlich die Begriffe „ambulant“ und „stationär“? Das „Mantra“ der Ambulantisierung stationärer Leistungen geht zu wenig darauf ein, was „ambulant“ genau bedeutet. Sind es wirklich einfach nur alle Leistungen ohne Bett? Kann das diesem riesigen Leistungsportfolio sowie dem EMB überhaupt gerecht werden? Vergleichbar ist dies mit der ungenauen Definition des Begriffs „Notfalls“. Der Medizin und der Ökonomie wird dies – ebenso wie dem Leistungsgeschehen – sicherlich nicht gerecht. 

 

Wichtig wäre eine juristisch und medizinisch klare und pragmatische Abgrenzung der einzelnen Leistungen zwischen ambulant, ambulant spezialfachärztlich, teil- und vollstationär, um nicht „Äpfel“ und „Birnen“ miteinander zu vergleichen. Diese könnten beispielsweise über die rein medizinischen Prozeduren- und Leistungsbeschreibungen hinausgehen. Erst wenn das übergreifend erfolgt ist, muss und kann über ein neues, integriertes Vergütungssystem – jenseits des EBM – diskutiert werden. Aus gesundheitsökonomischer Sicht wären teilstationäre Fallpauschen auch gut für die Vergütung der ASV denkbar – angewendet im klinischen wie auch im ambulanten Bereich.

 

Unbenommen der Frage nach zukünftigen Vergütungsmodellen muss aber auch weiter über die richtigen, zukunftsweisenden Versorgungsstrukturen diskutiert werden. Das meint explizit nicht eine Streichung von Versorgungskapazitäten, sondern eine neue Bündelung von medizinisch-pflegerisch komplexen Kapazitäten und Kompetenzen, um ein bestmögliches Ergebnis für die Bürger zu bewirken. Sicherlich spielen dabei auch die wohnortnahe Betreuung und Nachsorge – gerade in einer alternden Gesellschaft – eine riesige Rolle.

 

Auch in diesem Bereich ist es wichtig an einem Zielbild zu arbeiten, welches auch die ASV berücksichtigt. Denn ein funktionsfähiger, niedergelassener ambulant spezialfachärztlicher Bereich, der (digital) mit den stationären Zentren vernetzt ist, ist eine zentrale Voraussetzung, damit (stationäre) Konzentrationsprozesse überhaupt gelingen können – ohne die Versorgung vor Ort zu verschlechtern. Die ASV wird vermehrt gerade auch in der Fläche gebraucht werden, gerade vor dem Hintergrund des geo-demografischen Wandels.

 

Summa summarum: Es hat sich Einiges bewegt und vielleicht wird sich noch mehr bewegen (müssen). Die Corona-Pandemie traf Deutschland und das Gesundheitswesen wie eine Art exogener Schock. Diese Schock-Situation führte bei vielen v. a. zum Agieren im Affekt – strategisches Handeln schien zunächst schwer.

 

Dazu kam und kommt die Angst – die so gut wie immer zu irrationalen Handlungen führt. Nun ist der erste Schock vorbei und die Zeit gekommen, aus den Ergebnissen affektierter Handlungen zu lernen und sie in eine Strategie zu überführen – gerade auch in der ASV. Denn Finanzierungsfragen und Anpassungen im Versorgungs-, Anreiz- und Vergütungssystem sind elementar, um unser gutes deutsches Gesundheitssystem auch nach der Pandemie in eine gute Zukunft zu führen.

 

Autor:
Professor Dr. rer. pol. Andreas Beivers, Professor für Volkswirtschaftslehre und Studiendekan für Gesundheitsökonomie, Hochschule Fresenius München
Assoziierter Wissenschaftler am RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung

 

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