Ganzheitliche Krebstherapie: Infos und Unterstützungsangebote für niedergelassene Ärztinnen und Ärzte
Hoher Bedarf an psychosozialer Hilfe
Die Psychoonkologie ist heute Qualitätsmerkmal einer multiprofessionellen Krebsbehandlung, denn sie kann Betroffene und ihre Angehörigen bei der Krankheitsbewältigung und im Umgang mit psychosozialen Problemen wirksam unterstützen. Der Bedarf an psychosozialer Hilfe bei einer Krebserkrankung ist hoch: Mehr als ein Drittel der Patientinnen und Patienten leidet unter Ängsten oder Depressionen. Eine noch höhere Zahl der Betroffenen benötigt eine begleitende psychoonkologische Therapie. Unbehandelte psychische Störungen schränken Krebspatientinnen und -patienten nicht nur in ihrer Lebensqualität ein, sie wirken sich auch negativ auf den Krankheitsverlauf aus, führen zu mehr Nebenwirkungen während der Therapie und erhöhen die Morbidität. 1
Gesetzgeber verdoppelt Fördersumme
Der Gesetzgeber folgt der Expertenmeinung, dass psychosoziale Angebote zu einer ganzheitlichen Betreuung von Krebspatientinnen und Krebspatienten dazugehören. Deshalb definiert der Nationale Krebsplan als eines seiner Ziele eine bei Bedarf „angemessene psychoonkologische Versorgung“ aller Krebspatientinnen und Krebspatienten (2). Dies soll unter anderem eine gesetzlich festgelegte finanzielle Förderung der psychosozialen Krebsberatungsstellen ermöglichen. Diese wird seit 2020 durch den Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) geregelt. Nachdem zunächst eine Fördersumme von jährlich bis zu 21 Millionen Euro festgelegt worden war, verdoppelte sich dieser Betrag gemäß dem am 19.7.2021 in Kraft getretenen Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz (GVWG) auf 42 Millionen Euro. 3
Arzt muss „psychische erste Hilfe“ leisten
Eine psychoonkologische Betreuung oder Begleitung ist die Aufgabe aller an der Behandlung beteiligten Berufsgruppen, von onkologisch behandelnden Ärztinnen und Ärzten über Pflegekräfte bis hin zu Psychotherapeuten. Sie beginnt mit dem Zeitpunkt der Mitteilung einer Krebsdiagnose. Diese löst bei Betroffenen oft Verzweiflung, Angst und Hilflosigkeit aus und verursacht nicht selten ein Chaos auf der emotionalen, kognitiven und der Verhaltensebene. In diesen Fällen wird eine gezielte Krisenintervention nötig, der behandelnde Arzt muss sozusagen „psychische Erste Hilfe“
leisten. Dabei ist das wichtigste Instrument des Behandlers die Beziehung zum Patienten. Unerlässlich ist die Bereitschaft des Arztes oder der Ärztin, sich den eigenen Gefühlen zu stellen, sie wahrzunehmen, auszuhalten und so zu reflektieren, dass sie von den Gefühlen des Patienten getrennt werden können. Gelingt dies nicht und wehrt der Behandler negative Gefühle zu Krankheit und Tod zu seinem eigenen Schutz ab, führt dies letztlich zu einer Distanzierung und einer Störung der Arzt-Patienten-Kommunikation.4
Zertifizierte Weiterbildungsangebote
Egal, wie gut der Umgang mit den eigenen Gefühlen gelingt: Für jeden Arzt ist es eine belastende Situation, Patienten und deren Angehörigen eine Krebsdiagnose zu überbringen. Damit dies im Wohle aller Beteiligten bestmöglich gelingt, gibt es eine Reihe von Angeboten zur Aus- und Weiterbildung. In Kooperation mit der Arbeitsgemeinschaft für Psychoonkologie (PSO), der Deutschen Krebsgesellschaft und der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Psychosoziale Onkologie (dapo) führt die Weiterbildung Psychosoziale Onkologie (WPO) verschiedene Curricula zur psychoonkologischen Qualifizierung durch, die von der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG) zertifiziert sind.5 Aber auch andere Institute bieten von der DKG anerkannte Fortbildungen an. Das Ziel der Maßnahmen ist die Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten in allen Teilgebieten der Psychoonkologie mit Schwerpunkt auf die Diagnostik und Interventionen bei erwachsenen Krebspatientinnen und -patienten sowie deren Angehörigen.6
Unterstützung durch Supervision
Alternativ können sich Ärztinnen und Ärzte auch Hilfe bei ausgebildeten Psychoonkologen holen, um eine chronische Überbelastung zu vermeiden. Denn Psychoonkologen betreuen nicht nur Patienten und Angehörige, sie bieten auch Ärztinnen, Ärzten und Pflegepersonal Fortbildung und Supervision oder Fallbesprechungen an. Sie helfen beim Umgang mit zum Teil sehr unterschwellig wirksamen Gefühlen wie Angst, Aggression und Schuldgefühlen und befähigen zur Auseinandersetzung damit. Das entlastet den Behandler und verbessert die Kommunikation sowohl mit den Patienten als auch innerhalb des Teams. Im Sinne eines ganzheitlichen Ansatzes bei Krebstherapien tragen Psychoonkologen bei der interdisziplinären Zusammenarbeit im Tumorboard auch zu einer optimalen patientenindividuellen Behandlungsplanung bei.4
Videos „Erfahrungswissen Psychoonkologie“
Ein interessantes Zusatzangebot zur Wissensvermittlung beim Thema Psychoonkologie hat der Fachbereich Angewandte Humanwissenschaften der Hochschule Magdeburg-Stendahl. Im von der Deutschen Krebshilfe und von der dapo unterstützen Projekt „Erfahrungswissen Psychoonkologie“ kommen in zehn Videos renommierte Expertinnen und Experten des Faches zu Wort, die die Geschichte der Psychoonkologie in Deutschland zum Teil maßgeblich mitprägen oder geprägt haben. In den thematisch zusammengeschnittenen Interviews erzählen sie aus dem professionellen Nähkästchen und geben Einblicke in ein ebenso schwieriges wie lohnenswertes Feld psychosozialer Arbeit.7
„ …dass es besser wäre, gegen den nächsten Brückenpfeiler zu fahren“
Es ist morgens 9:00 Uhr und der Praxiskalender im 15-Minutentakt bis zur Mittagszeit gefüllt. Als nächste Patientin steht ein Erstgespräch auf dem Programm. Ich bin schon leicht verärgert über die Terminierung und lese die Vorbefunde: Mammakarzinom pT1a, pN0 (0/1sn) M0 G3, triple negativ. Frau G. ist 37 Jahre alt. Die Empfehlung des Tumorboardes entspricht dem Standard 4 x EC und 12 x Paclitaxel; sie kommt zur Zweitmeinung – das sollte schnell gehen. Ich rufe die Patientin auf und vor mir sitzt eine kleine schlanke Person, die auf meine Frage wie es ihr geht antwortet: „Ich war gestern Abend mit meiner 8-jährigen Tochter im Auto unterwegs und habe mir überlegt, dass es besser wäre, auf der Autobahn gegen den nächsten Brückenpfeiler zu fahren. Meine Mutter ist an Brustkrebs gestorben und es war ein schlimmer Weg. Den möchte ich meiner Tochter ersparen.“
Sie weiß bereits viele Details über die geplante Behandlung und denkt darüber nach, keinerlei weitere Therapie zu akzeptieren. Ihr „Ausweg“
besteht darin sich und ihre Tochter umzubringen.
Das nun folgende Gespräch dauert fast 60 Minuten und am Ende habe ich das Gefühl, eine Stabilisierung für den Moment geschafft zu haben. Frau G. und ich vereinbaren, dass Sie über eine Behandlung nachdenkt und schließt den Suizid für den Moment aus. Es ist jedoch auch klar spürbar, dass die Wirkung des Gespräches nicht lange „anhalten“
wird. Eine psychoonkologische Intervention ohne längere Wartezeit ist notwendig. Vergleichbare Situationen treten immer wieder in der Onkologie auf und wir haben in der Vergangenheit große Schwierigkeiten gehabt, kurzfristig eine(n) geeignete(n) Therapeutin(en) zu finden. Daher haben wir beschlossen, eine Psychoonkologin in unser Praxisteam zu integrieren.
An unserem Standort arbeiten zwei Onkologen und wir behandeln gemeinsam ca. 1.500 Erkrankte pro Quartal. Viele unserer Patienten befinden sich in einer palliativen Situation. Eine Auswertung unseres eigenen Bedarfes hat gezeigt, dass durchschnittlich 25% der Behandelten einen zusätzlichen psychoonkologischen Betreuungsbedarf haben. Dieser ist unabhängig von der Tumorentität, der tatsächlichen Bedrohung und ist häufig Ausdruck der persönlichen Lebensgeschichte. Somit besteht für uns als Behandler die Aufgabe darin, die entsprechenden Patienten zu identifizieren und diesen die Unterstützung anzubieten. Die Schaffung eines niederschwelligen Zugangs hat dabei die Akzeptanz deutlich verbessert. Für einige Betroffene stellen die Räumlichkeiten eine zu enge Verbindung zu ihrer Erkrankung dar. Somit sind Angebote der Behandlung in getrennten Räumen außerhalb der Praxis eine sinnvolle Ergänzung und werden häufig genutzt.
Parallel haben wir begonnen, Achtsamkeitstraining in kleinen Gruppen anzubieten. Diese Form der Gesundheitsschulung über jeweils 8 Wochen à 1,5 Stunden wird oftmals auch von Angehörigen in Anspruch genommen und die Teilnehmer spiegeln durchweg eine Besserung ihrer inneren Stabilität im Umgang mit der aktuellen veränderten Lebenssituation wider.
Das Methodenspektrum der psychoonkologischen Betreuung verbindet eine humanistisch tiefenpsychologisch orientierte Grundhaltung mit Methoden aus der aktiven Imagination und systemischen Arbeitsweisen. Ziel ist primär die Stabilisierung und Ressourcenaktivierung mit dem Gedanken der Resilienzförderung. Die Unterstützung bei der Bewusstwerdung der den Symptomen zugrundeliegender Gefühle und Bedürfnisse erleichtert den Umgang mit den hohen Anforderungen durch Krankheit und Therapie.
Das bestehende Angebot bedeutet für die Patienten und Angehörigen der Praxis eine Verbesserung der Behandlungsqualität und trägt dazu bei, dass die gewonnene Lebenszeit qualitativ hochwertiger empfunden wird. Hinzu kommt die Begleitung der z. T. minderjährigen Kinder betroffener Eltern, bei denen eine Intervention häufig situativ notwendig ist. Durch die Möglichkeit der raschen Verfügbarkeit können schwierige Situationen frühzeitiger behandelt und Folgeprobleme vermieden werden.
Im psychoonkologischen Erstgespräch werden Auftrag und Kriterien für die Aufnahme in das Projektangebot überprüft (akute Überforderungssymptomatik der Anpassungsleistung: Angst und Unruhezustände, Schlafstörung, hoher Schmerzmittelbedarf, vielfältige soziale Doppelbelastungen durch familiäre/berufliche/finanzielle Dysbalancen).
In unserer Praxis haben wir uns dazu entschieden, die Therapeutin in Halbtagsanstellung in unser Team aufzunehmen. Parallel werden Patienten, die eine langfristige Intervention benötigen, gebeten, einen kleinen Eigenbeitrag entsprechend ihrer finanziellen Möglichkeiten zu leisten.
Die Mitarbeiter profitieren ebenfalls sehr von der psychotherapeutischen Präsenz. Häufig reicht ein kurzer Kontakt in einer schwierigen Situation, diese auch für uns zu entschärfen, was zu einer größeren Teamzufriedenheit und damit auch Teamstabilität geführt hat.
Frau G. hat sich schließlich auf die Behandlung einlassen können, akzeptiert den unvermeidbaren Haarverlust sowie die körperlichen Symptome der Behandlung. Ohne psychoonkologische Unterstützung hätte der Weg auch ein anderer werden können.
Autor: Olav Heringer, Gemeinschaftspraxis für Hämatologie und internistische Onkologie im Fachärztezentrum Medicum, Wiesbaden