Richtige Entscheidungen treffen, Patienten optimal versorgen
Fehler sind selten, aber belastend
Jedes Jahr werden rund 10.000 Behandlungen, bei denen Behandlungsfehler vermutet werden, durch die Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen bei den Ärztekammern im Hinblick auf die Arzthaftung bewertet.1Absolut betrachtet wirkt diese Zahl recht hoch, sie relativiert sich aber sehr schnell mit Blick auf die Zahl der Behandlungsfälle: Allein in der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung kommt es jährlich zu mehr als einer Milliarde Arzt-Patienten-Kontakten. In den Krankenhäusern werden zusätzlich fast 19,8 Millionen Fälle pro Jahr behandelt.2 Dennoch ist jede Komplikation eine Belastung für Patienten, Angehörige und behandelnde Ärzte. Es gilt daher, aus Fehlern zu lernen – und sie für die Zukunft möglichst zu vermeiden.
Schnelles Denken, langsames Denken
Der israelisch-US-amerikanische Psychologe und Wirtschafts-Nobelpreisträger Daniel Kahnemann ist Mitbegründer einer Theorie, die erklärt, wie menschliche Irrtümer entstehen. Laut Kahnemann denken wir in zwei Systemen:3 System 1 ist das schnelle Denken. Ohne lange zu reflektieren, fällen wir Entscheidungen auf Basis von Heuristiken – also der Strategie, mit begrenztem Wissen und wenig Zeit zu praktikablen Lösungen zu kommen. Weil wir beim schnellen Denken nicht auf alle verfügbaren Informationen, sondern in erster Linie auf Routinewissen zugreifen, ist dieses System sehr anfällig für Fehler.
Diese versuchen wir mit System 2, dem langsamen Denken, zu vermeiden. Es baut auf logischem Denken auf, benötigt viel Selbstkontrolle und Selbstreflexion und ist ebenso anstrengend wie zeitintensiv. In Entscheidungssituationen interagieren die Systeme 1 und 2 durchaus miteinander. Bei erkennbaren drohenden Fehlern bremst das langsame Denken das schnelle aus. Steht der Mensch unter akutem Handlungsdruck, verzichtet er auf langes Grübeln, entscheidet schnell und kalkuliert Fehler ein.
Stressfrei bessere Entscheidungen treffen
Schnelle und gleichzeitig sichere Therapieentscheidungen zu treffen, ist gemäß Kahnemanns Theorie also gar nicht möglich. Während Notfallmediziner allerdings oft keine andere Wahl haben, als auf Basis von Heuristiken zu urteilen und zu handeln, können Ärztinnen und Ärzte in der ambulanten Versorgung sich mehr Zeit nehmen, reflektierte und abgestimmte Entscheidungen zu treffen.
Allerdings braucht es dazu eine Umgebung, in der ein sicheres und fehlerfreies Arbeiten möglich ist.4 Denn nicht nur der Zeitfaktor, auch schlecht funktionierende Systeme können uns stressen. Um dies zu vermeiden, sind Arbeitsmaterialien im Idealfall nutzerfreundlich, Medizingeräte zuverlässig und Dienstpläne so abgestimmt, dass ein ausgewogener Qualifikations-Mix aus erfahrenen und unerfahrenen Mitarbeitern gewährleistet ist.
Auch individuelle Faktoren beeinflussen die Qualität von Entscheidungen. Deshalb sollte das Arbeitsumfeld motivierend gestaltet sein, alle Mitarbeitenden – das schließt den/die Praxisinhaber ein – sollten vor Überlastungen geschützt werden und die Möglichkeit haben, sich kontinuierlich fachlich und persönlich weiterzuentwickeln. Eine solche Kultur der Sicherheit, der Wertschätzung und des Vertrauens schafft die besten Voraussetzungen für stressfreie Entscheidungen.
Aus der Luftfahrt lernen: Entscheidungen systematisieren
Um Entscheidungsprozesse zu verbessern, ist es zudem hilfreich, sie zu systematisieren. Aus der Luftfahrt stammt eine Methode namens FORDEC. Dabei handelt es sich um eine Art Checkliste, die Piloten und andere Verantwortliche in der Luft- und Raumfahrt in schwierigen Situationen bei der Entscheidungsfindung unterstützen soll. FORDEC unterteilt den Entscheidungsprozess in fünf Schritte, die es abzuarbeiten gilt:
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F – Facts: Was sind die Fakten? Hier geht es weder um Interpretationen noch um Bewertungen, sondern um die nackten Tatsachen.
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O – Options: Welche Möglichkeiten ergeben sich aus den Fakten? In diesem Schritt werden alle Optionen aufgelistet. Dabei sollten nicht nur gängige, sondern auch unkonventionelle Optionen berücksichtigt werden.
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R – Risks and Benefits: Wo sind die Risiken, wo die Vorteile? Alle Option werden nun hinsichtlich ihres Chancen-Risiko-Verhältnisses geprüft, verglichen und bewertet.
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D – Decision: Alle Informationen liegen auf dem Tisch. Jetzt gilt es, konsequent zu sein und eine Entscheidung zu treffen.
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E – Execution: Die Entscheidung wird umgesetzt. Anhand von zuvor aufgelisteten konkreten Maßnahmen geht es nun zeitnah ans Handeln.
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C – Check: Haben die beschlossenen Maßnahmen zum Erfolg geführt? Der letzte Schritt von FORDEC dient der Kontrolle, ob die Entscheidung richtig war. Falls nicht, muss sie korrigiert und die Liste erneut abgearbeitet werden.
Diese einfache und pragmatische Methode der strukturierten Entscheidungsfindung hat sich nicht nur in der Luftfahrt bewährt, sie kommt auch in anderen Bereichen wie der Wirtschaft und der Medizin erfolgreich zum Einsatz. Sie kann vom Einzelnen ebenso wie von Teams angewendet werden.
Entscheidungen im Team treffen
Noch besser und sicherer werden Entscheidungsprozesse durch das Einholen anderer Meinungen. Erfolgreich praktiziert wird die Methodik der partizipativen Entscheidungsfindung in interdisziplinären Fallkonferenzen oder Tumorboards. Dort treffen sich Ärztinnen und Ärzte aus verschiedenen Fachabteilungen, um Anamnesen und Befunde gemeinsam zu besprechen. Alle an einem Fall Beteiligten legen den weiteren Ablauf der Behandlung gemeinsam fest. Die Empfehlung wird abschließend in der elektronischen Patientenakte abgelegt. Auch niedergelassene Ärztinnen und Ärzte können Tumorboards zur Einholung von Vorschlägen für eine Behandlung nach den neuesten Standards nutzen.
Fazit:
Die wichtigste Voraussetzung für gute Entscheidungen ist, das eigene Handeln stets reflektiert und selbstkritisch zu betrachten. Bei der Optimierung der Genauigkeit von Diagnosen und der Qualität von Therapien helfen verschiedene Sicherheitsmechanismen wie Checklisten und der interdisziplinäre Austausch. Zur Vermeidung von Stress gilt es, ausreichend kompetentes Personal bereitzustellen und Praxisabläufe zu optimieren. Ein förderndes, wertschätzendes Arbeitsumfeld schafft zusätzlich Anreize für ein ethisch basiertes Arbeiten.