FÜR SIE GELESEN!

Verzögerter Therapiebeginn – schlechte Prognose?

 

Bislang weiß man nur wenig darüber, ob ein verzögerter Therapiebeginn bei Prostatakrebs (PCa)-Patienten mit mittlerem oder hohem Risiko den Krankheitsverlauf wesentlich beeinflusst: Maggie C. Lee et al. (Durham, USA) untersuchen jetzt in einer retrospektiven Analyse, ob eine Verzögerung zwischen Diagnose und radikaler Prostatektomie (RP) als primäre Therapie die Zeitspanne bis zur Kastrationsresistenz (kastrationsresistentes Prostatakarzinom, CRPC), Fernmetastasenbildung, Tod aufgrund jeglicher Ursache (any cause mortality, ACM) beeinflusst. Hierzu wurden Daten von 3.962 Hormon-naiven PCa-Patienten aus der SEARCH-Kohorte (initial: 8.156)1ausgewertet, die an einem PCa mit mittlerem/hochgradigem Risiko (nach D'Amico) erkrankt waren und zwischen 1988 und 2018 eine radikale Prostatektomie (RP) ohne vorherige Strahlentherapie erhalten hatten.

 

Summary

 

Von den in die vorliegende retrospektive Analyse eingeschlossenen 3.962 Hormon-naiven PCa-Patienten mit mittlerem oder hohem Risiko der SEARCH-Kohorte*, die als primäre Therapie eine RP erhalten hatten, entwickelten 167 ein CRPC, bei 248 wurden in der Bildgebung Metastasen diagnostiziert und 884 verstarben nach einer medianen Nachbeobachtungszeit von 85 Monaten.

 

Insgesamt fand die Arbeitsgruppe bei PCa-Patienten mit mittlerem/hohem Risiko, die ihre Behandlung bis zu einem Jahr nach der PCa-Diagnose verzögerten, kein statistisch signifikant erhöhtes Risiko für einen ungünstigen Krankheitsverlauf, einschließlich CRPC, Metastasen und Tod.

 

Konkret zeigte sich, dass längere Zeitspannen zwischen Biopsie und RP mit einem leicht geringeren CRPC-Risiko assoziiert sind [bereinigte Hazard Ratio (HR) 0,88, 95% Konfidenzintervall (KI) 0,80-0,98; p=0,02], und dies unabhängig davon war, ob die Patienten ein mittleres/hohes Risiko hatten. Die Zeitspanne von der Biopsie bis zur RP war sowohl in der Gruppe mit mittlerem als auch in der Gruppe mit hohem Risiko nicht signifikant mit einem Risiko für Metastasen (p=0,5 vs. 0,9) oder ACM (p=0,1 vs. 0,1) assoziiert.

 

Für die Praxis heißt das:

 

Details

 

Rationale

 

Während es allgemein als sicher gilt, PCa-Patienten mit niedrigem Risiko verzögert zu behandeln, gibt es bislang kaum entsprechende Erkenntnisse zu denjenigen mit mittlerem bzw. hohem Risiko. Nun haben Maggie C. Lee et al. (Durham, USA) in einer retrospektiven Analyse bei Hormon-naiven Hochrisiko-PCa-Patienten mit RP ohne vorherige Strahlentherapie untersucht, wie sich ein aufgeschobener Therapiestart (bis zu einem Jahr) auf den klinischen Verlauf der Erkrankung auswirkt. Laut Studienautoren konzentriert sich die vorliegende Arbeit im Gegensatz zu früheren Studien auf die zentralen klinischen Endpunkte Kastrationsresistenz, Fernmetastasen und ACM.

 

Methodik

 

Die Arbeitsgruppe schloss 3.962 Hormon-naive PCa-Patienten mit mittlerem/hohem Risiko aus der SEARCH-Kohorte2 (n=8.156), die zwischen 1988 und 2018 eine radikale RP als primäre Therapie erhalten hatten, in ihre Analyse ein. Cox-Proportional-Hazard-Modelle bewerteten den Zusammenhang zwischen der Zeit, die von der Biopsie bis zur RP verging (bis zu 1 Jahr) und der Zeit bis zum CRPC, der Metastasierung und der ACM. Zudem prüften sie den Einfluss der Risikogruppe auf diese Parameter.

Der primäre Endpunkt war die Progression bis zum CRPC, definiert durch einen PSA-Anstieg von ≥2 ng/ml und einen Anstieg von 25 % gegenüber dem PSA-Nadir nach der Androgendeprivationstherapie (ADT) während der kontinuierlichen ADT. Zu den sekundären Endpunkten gehörten die Entwicklung von Fernmetastasen (identifiziert in der Bildgebung) und ACM.

 

Ergebnisse

 

Von den 3.962 Hormon-naiven Patienten hatten 2.496 (63%) ein PCa mit mittlerem Risiko und 1.466 (37%) ein Hochrisiko-PCa. Wie antizipiert, zeigten die Prostatakarzinome in der Hochrisiko-Gruppe aggressivere Tumoreigenschaften – basierend auf den Variablen: PSA-Wert vor der Biopsie (protokolliert), Gleason-Score in der Biopsie, klinisches Stadium, Prozentsatz der positiven Biopsie-Kerne, positive Schnittränder, extrakapsuläre Ausdehnung, Samenblaseninvasion und Lymphknotenbefall (jeweils p <0,05).

 

Die Zeit zwischen Biopsie und RP war in der Hochrisiko-Gruppe kürzer (Median [2,9 Monate, IQR: 2,1-4,1) versus die Gruppe mit mittlerem Risiko (Median [3,2 Monate, IQR: 2,3-4,5; p<0,001). Im Vergleich zu den Patienten mit mittlerem Risiko wurden die Hochrisiko-Patienten im Median länger nachbeobachtet (87 Monate, IQR: 51-131 vs. 84 Monate, IQR: 47-129; p=0,01). Außerdem waren die Patienten der Hochrisiko-Gruppe signifikant älter.

 

Insgesamt entwickelten 167 ein CRPC, bei 248 Patienten entstanden Metastasen und 884 Patienten verstarben an irgendeiner Ursache nach einer medianen Nachbeobachtungszeit von 88 Monaten. Bei den Patienten ohne Ereignisse betrug die mediane Nachbeobachtungszeit für CRPC als auch für Metastasen 89 Monate und für ACM 88 Monate.

 

In den Kaplan-Meier-Analysen war eine verzögerte RP zwar signifikant, jedoch invers assoziiert mit der Zeit bis zum CRPC (p=0,01) und nicht assoziiert mit der Zeit bis zur (bildgebenden) Diagnostik von Metastasen (p=0,2) oder der ACM (p=0,4).

 

Key-Finding und Fazit für die Praxis

 

 

Univariate Analyse 

Multivariate Analyse 

Risiko-Gruppe 

Anzahl Ereignisse 

HR  
(KI 95%) 

p-Wert 

p-Wert 
Interaktions- 
Test 

HR 
(KI 95%)  

p-Wert 

p-Wert 
Interaktions- 
Test 

Gesamt 

3.962 

 

 

 

 

 

 

CRPC 

Gesamt 

167 

0,89  
(0,80-0,97) 

0,01 

- 

0,88  
(0,80-0,98) 

0,02 

- 

Mittleres Risiko 

51 

0,80 
(0,67-0,96) 

0,02 

0,2  
(vs. H.R) 

0,80  
(0,67-0,97) 

0,02 

0,2  
(vs. H.R.) 

Hohes Risiko (HR) 

116 

0,91  
(0,82-1,03) 

0,1 

 

0,93  
(0,82-1,05) 

0,2 

 

Metastasen 

Gesamt 

248 

0,98  
(0,91-1,05) 

0,5 

- 

0,99  
(0,92-1,07) 

0,8 

- 

Mittleres Risiko 

97 

0,98  
(0,88-1,09) 

0,7 

0,9  
(vs. H.R) 

0,99  
(0,89-1,10) 

0,9 

0,9  
(vs. H.R) 

Hohes Risiko (HR) 

151 

0,97  
(0,89-1,07) 

0,6 

 

0,99  
(0,90-1,10) 

0,9 

 

ACM 

 

 

0,01 

 

 

0,03 

 

Mittleres Risiko 

494 

0,95  
(0,91-1,00) 

0,04 

 

0,96  
(0,92-1,01) 

0,1 

 

Hohes Risiko (HR) 

390 

1,05  
(0,99-1,11) 

0,1 

 

1,05  
(0,99-1,11) 

0,1 

 

Tabelle 1: Hazard Ratios für die Exposition (Zeit von der Biopsie bis zur RP) und die klinischen Langzeit-Ergebnisse bei hormon-naiven Patienten 

Die HRs wurden anhand von Cox-Proportional-Hazard-Modellen ermittelt. Die nach Risikogruppe stratifizierten HRs (intermediär vs. hoch) wurden mithilfe eines Modells berechnet, das die Interaktion zwischen den Variablen Risikogruppe und der Zeit von der Biopsie bis zur RP erfasste. War das Ergebnis (Interaktionsterm) statistisch nicht signifikant, wurde er entfernt. Die Gesamt-HR wurde für die Zeit von der Biopsie bis zur RP geschätzt, über alle Risikogruppen. Multivariate Analysen wurden für Alter, Risikogruppe, dokumentierter PSA-Wert vor der Biopsie, Gleason Score und Prozentsatz der positiven Biopsie-Kerne und klinisches Stadium angepasst. 

 

Es fiel auf, dass sowohl in den univariaten als auch in den multivariaten Analysen längere Zeitspannen zwischen Biopsie und RP mit einem leicht geringeren CRPC-Risiko assoziiert waren, und ohne signifikanten Einfluss durch die beiden Risikogruppen. (Tabelle 1)

Bei der ACM veränderte die Risikogruppe den Effekt der Zeitspanne zwischen Biopsie und RP sowohl in den univariablen als auch in den multivariablen Modellen signifikant. Behandlungsverzögerungen waren jedoch weder in der Gruppe mit mittlerem Risiko noch in der Hochrisikogruppe in multivariablen Modellen signifikant mit ACM assoziiert (Tabelle 1).

Bei Hochrisiko-Patienten mit einer verzögerten RP um mehr als 6 Monate wurde ein statistisch signifikanter Anstieg der ACM beobachtet (univariate Analyse: HR 1,47, 95% KI: 1,02-2,12; p=0,040); multivariate Analyse: HR 1,46, 95% KI 1,01-2,12; p=0,04).

 

Sensitivitätsanalysen

 

Sensitivitätsanalysen, die den Zeitpunkt der RP als Nullzeitpunkt verwendeten, zeigten vergleichbare Ergebnisse in Bezug auf die Endpunkte CRPC und Metastasen. Anders als bei der ersten Analyse, die keinen Zusammenhang zwischen Behandlungsverzögerung und ACM zeigte, war in dieser Analyse für Hochrisiko-Patienten, die in der univariaten Analyse verzögert behandelt wurden, das Risiko zu versterben erhöht. Außerdem wiederholte die Arbeitsgruppe das oben beschriebene Cox-Proportional-Hazard-Modell mit einer Stratifizierung, um unterschiedliche Ausgangsrisiken je nach Risiko-Gruppe zu berücksichtigen; auch hierbei wurden keine nennenswerten Unterschiede in der Größe, Richtung oder statistischen Signifikanz der in Tabelle 1 beschriebenen Assoziationen gefunden.

 

Fazit

 

Die retrospektive Analyse der SEARCH-Kohorte von Lee et al. zeigte, dass Verzögerungen bis zu einem Jahr von der Diagnose bis zur RP bei Hormon-naiven PCa-Patienten ohne vorherige Strahlentherapie mit mittlerem und hohem PC-Risiko nicht mit einem statistisch erhöhten Risiko für CRPC, Metastasen oder ACM assoziiert war. Wie das Ergebnis signalisiert, muss auch bei Patienten mit mittlerem und hohem PC-Risiko nicht sofort eine Therapie eingeleitet werden: Für die Praxis heißt das – es kann die benötigte Zeit genommen werden, um die bestmögliche Therapieentscheidung zu treffen.